Ein Interview mit Natalie Friedli
Ich wäre froh, wenn Du Dich kurz vorstellen könntest?
- Name: Friedli
- Vorname: Natalie
- Geboren: im 1991
- Beruf: Sozialpädagogin HF mit psychisch erkrankten Menschen
- Nebenberuf: Personal Coaching / Fitness Online Shop
- Hobby: Fitnesssport, Polefitness, Ernährung
- E‑Mail: natalie.friedli@yourlimitless-food.ch
- Webseite: www.yourlimitless-food.ch
- Instagram: nataliefriedli/ yourlimitlessfood
Wann hast Du die Diagnose Diabetes Typ 1 erhalten resp. wie alt warst Du bei der Diagnose?
- Diabetes Typ 1 seit: Mai 2008 (mit 17 Jahren)
- Freestyle Libre Sensor (2) – Trägerin seit: Januar 2018
- Mylife YpsoPump – Trägerin seit: Juli 2021 vorher manuell mit Pen
- Insulin: Fiasp (vorher Fiasp und Toujeo)
Wie hast Du Dich bei der Diagnose gefühlt?
Bezüglich des massiven Gewichtsverlustes und geschwächten Körpers hatte ich einen Kontrolltermin bei meinem Hausarzt wahrgenommen. Ich weiss noch, dass ich am Morgen ein Weissbrottoast mit Nutella zum Frühstück gegessen hatte. Eigentlich hätte ich anschliessend an den Termin noch arbeiten gehen wollen, doch das hatte mir mein Arzt nach Blutabnahme verweigert und mich auf direkten Weg ins Spital verwiesen, weil der Blutzuckerwert 33 mmol/l angezeigt hatte.
Zu diesem Zeitpunkt war mir noch nicht bewusst, was diese Diagnose für mich bedeutete. Mein erster Gedanke und meine Sorge nach der bekannt gegebenen Diagnose waren lediglich, dass ich nie wieder Schokolade und Süsses essen dürfte. Nach erhaltenen Informationen zu dem Krankheitsbild, konnte ich die Diagnose recht gut annehmen und versuchte, aus der Tatsache das Beste zu machen, weil die Situation sowieso nicht veränderbar gewesen wäre. Meine Einstellung dazu war, dass andere Krankheiten, wie z.B. unheilbarer Krebs oder Einschränkungen in der Mobilität, im Verhältnis zu meinem Diabetes Typ 1 für mich viel schlimmer gewesen wären.
Ich verbrachte 2 Nächte im Spital und wollte so bald wie möglich wieder nach Hause. Die Mahlzeiten im Spital fielen für mich eher knapp aus inkl. einer noch unreifen Frucht, welche ich jeweils trotzdem gegessen hatte, da mein Körper ausgehungert war und ich danach meist noch immer grossen Hunger hatte. Im Spital hatten die Ärzte meinen Insulinbedarf eingestellt und mich in die Diabetes- und Ernährungsberatung geschickt, um mich für meinen Austritt vorzubereiten.
Wie hat sich dein Alltag mit Diabetes verändert?
In der Anfangszeit ass ich nach Schema und besuchte regelmässig Diabetes Kurse. Zu einem späteren Zeitpunkt machte ich den Fit-Kurs, um nicht mehr nach Schema essen zu müssen, sondern anhand von dem, was ich esse, zu spritzen. Gerade die ersten Einkäufe in den Lebensmittelläden waren für mich sehr herausfordernd und hatten mich verunsichert. Auch die ganzen Light-Produkte hatten bei mir für Verwirrung gesorgt. Doch mit der Zeit gewann ich an Wissen und Erfahrung, bekam Routine und lernte meinen Körper immer besser kennen.
Als Kind und im Jugendalter war ich immer sehr schlank und musste mir nie darüber Gedanken machen, was und wie viel ich ass. Als ich dann aus dem Krankenhaus entlassen wurde, hatte ich häufig Heisshunger und merkte, wie mein Körper wieder zu Kräften kommen musste. Als Alternativen ass ich viele fetthaltige Nahrungsmittel. Aber nachdem sich mein Gewicht wieder normalisiert hatte, blieb der Heisshunger weiterhin vorhanden und ich musste mich zum ersten Mal gegen Gelüste zur Wehr setzen, um nicht weiter an Gewicht zuzunehmen.
Seither war ich verpflichtet, Disziplin an den Tag zu legen. Nicht nur mit dem Blutzucker-Messen und Insulin-Spritzen, sondern auch bezüglich der Ernährung und Gewichtskontrolle. Diese sind bis heute zu einem grossen Thema geworden und stellen einen zentralen Punkt in meinem Leben dar.
Wann kamen der Sport und das Bodybuilding in Deinem Leben dazu? Vor oder nach der Diagnose?
Vor der Diagnose war ich im Turnverein und hatte mich regelmässig sportlich betätigt, war 2–3x in der Woche ins Lauftraining gegangen und hatte an Wettkämpfen der Mittelstrecke mit Erfolg teilgenommen. Bereits dort war mein Wille jeweils stark ausgeprägt. Während der Berufsausbildung fehlte mir die Zeit, das Lauftraining weiter zu verfolgen und bald darauf erhielt ich die Diagnose.
2010 entdeckte ich als neue Disziplin das Polefitness für mich, welches ich 7 Jahre ausgeübt hatte und welches sich mit dem Diabetes gut kombinieren liess. Durch das Polefitness hatte ich einiges an Kraft und Muskeln aufgebaut und ich ging ca 1x im Monat in das Fitnessstudio, um zusätzlich meinen Unterkörper zu stärken. Dort wurde ich auf meine Muskeln angesprochen und ich wurde gefragt, ob ich auch an Bühnenwettkämpfen im Bodybuilding teilnehmen wolle.
Dies brachte mich dazu, herausfinden zu wollen, was ich aus meinem Körper herausholen könnte. Auch träumte ich davon, 1x im Leben ein Sixpack zu haben. Hinweg von den Vorurteilen, dass alle Diabetiker übergewichtig sind. Auch von meinem Umfeld spürte ich grosse Sorge um mich, was ich nachvollziehen konnte, doch nichts brachte mich von meinem Willen und meiner Entschlossenheit ab. Kurz darauf holte ich mir einen Wettkampf-Coach an meine Seite, welcher mir das ganze Wissen über Ernährung und Training, welches ich für den Muskelaufbau und die Diät benötigte, beigebracht hatte.
Wie funktioniert es mit der Ernährung während des Wettkampfes und in den Phasen dazwischen?
Die Ernährung für den Muskelaufbau zeigt sich eher eiweissreich, aber auch der Kohlenhydrat‑, sowie Fettanteil und genügend Gemüse sind wichtig. Je hochwertiger bzw. nährwertreicher die Lebensmittel sind, desto optimaler ist es für den Aufbau. Jedoch stellt sich die Offseason (Aufbauphase) in der Ernährung für mich weniger einschränkend dar als in der Diät. In der Offseason ist es wichtig, eher etwas im Kcal-Überschuss zu sein und mehrmals täglich mit Pausen dazwischen zu essen und selbstverständlich muss nebenbei oft und hart trainiert werden (4–5x in der Woche).
Das Insulin gehört zu den Wachstumshormonen, welches den Aufbau positiv unterstreicht, jedoch nicht nur den Muskelaufbau, sondern auch den Fettaufbau. Daher darf während der Offseason trotzdem nicht zu viel im Überschuss gegessen werden, da sich sonst die überschüssigen Kcal in Fett umwandeln, was dann mühsam wieder abgebaut werden muss.
Im Gegenzug ist die Diät wohl die herausforderndste Phase der Wettkampfvorbereitung. Auch ohne Diabetes verlangt es unheimlich viel Disziplin und mentale Stärke, da der innere Schweinehund ständig überlistet werden muss. Je mehr ein Ablauf an Gewohnheit gewinnt, desto leichter wird die Überwindung. Die Diät bzw. Ernährung läuft 24⁄7 in der Woche und fordert einem anders als das Training, welches auch Willenskraft benötigt. Doch das Training ist rasch erledigt und ist danach für den Tag vorerst abgeschlossen.
Die Ernährung gestaltete ich möglichst Low-Carb, um den Insulinbedarf niedrig zu halten. Lediglich direkt nach dem Training und zusätzlich an einem Tag in der Woche esse ich kohlenhydratreich, um die Energie-Speicher in den Muskeln jeweils aufzuladen. Die zusätzliche Hürde mit Diabetes ist, dass das Insulin, welches die Diät erschwert, nicht einfach weggelassen werden kann auch wenn man keine Kohlenhydrate isst. Es besteht ein Grundbedarf an Insulin.
Wenig Kohlenhydrate zu essen bedeutete aber auch, wenig direkte Energie zu erhalten. Durch das Insulin ist der Fettabbau eher gehemmt. Dies hatte für mich zur Folge, obwohl kaum Energie vorhanden war, dass ich den Stoffwechsel und die Fettverbrennung noch mehr ankurbeln musste. Dies tat ich, indem ich zusätzlich zum Krafttraining viel Ausdauertraining gemacht habe. Mit jedem Ausdauertraining bestand wiederum die Gefahr, die mühsam aufgebauten Muskeln durch einen Nährstoffmangel wieder zu verlieren. Es war äusserst wichtig, trotz dem Kcal-Defizit regelmässig zur richtigen Zeit und das Richtige in kleinen Mengen zu essen, um so das Fett loszuwerden und die Muskeln dennoch möglichst komplett erhalten zu können.
Wenig Nahrung im Magen und einen sehr gut funktionierenden Stoffwechsel zu haben hiess für mich, bedeutend weniger Insulin zu benötigen. Somit musste ich meinen Basalwert erst wieder neu definieren, was regelmässig Unterzuckerungen zur Folge hatte. Hierbei war ich gezwungen «sinnlosen» Zucker einzunehmen und ich wusste genau, dass es meine ganze Diät wieder durcheinanderbringen würde.
Diese Ohnmacht brachte mich immer wieder in Motivationstiefs. Doch nachtragend zu sein brachte mir nichts. Dies gehörte nun halt zu den Grenzen, welche ich als Diabetikerin zu akzeptieren hatte, auch wenn die Diät an manchen Tagen nicht so funktionierte wie sie sollte. Das wichtigste war, jeden Tag wieder von Neuem das Beste zu geben.
Die strenge Diät und im Defizit zu sein, hiess eine extreme Auseinandersetzung mit meinem Körper und Geist. Als erstes lernte ich bei meiner Diät, die Ausreden loszulassen. Die eigene Situation und Gegebenheiten musste ich so akzeptieren, wie sie waren. Ich musste mich nicht mit anderen vergleichen und durfte nicht zu viel nachdenken, sondern einfach machen!
Ich musste Grenzen überschreiten, funktionieren, Tag für Tag stark sein, negative Gefühle aushalten, nicht aufgeben und das Ziel nie aus den Augen verlieren. Diese Erfahrung war für mein Leben sehr prägend. Umso dankbarer und emotionaler war ich dann am Tag des Wettkampfes, dass ich bis zuletzt durgehalten habe.
Diese 3 Leitsätze sind mir aus dieser Erfahrung am Meisten geblieben:
- «Je härter der Weg, desto wertvoller das Ziel.»
- «Das Beste ICH aus sich herausholen und nicht mit anderen vergleichen.»
- «Wo ein Wille ist, ist ein Weg. – Die innere Einstellung ist entscheidend und der eigene Widerstand muss losgelassen werden.»
Welchen Einfluss haben die Ernährung und der Sport auf Deinen Blutzucker? Gibt es da massive Unterschiede oder ist es immer etwa gleich?
Im Bodybuilding ist es etwas vom Wichtigsten, nach Plan zu trainieren und zu essen. Mit Diabetes steht erst der stabile Blutzucker im Zentrum und danach die möglichst genaue Einhaltung der Pläne. Je nach Sportintensität musste ich die Insulinabgabe und Ernährung an den Blutzucker anpassen.
Ich unterschied dabei 3 Intensitäten:
- Ausdauertraining: (mit leicht erhöhtem Puls): Der Blutzucker muss sich vor Beginn in einem leicht höheren Wert befinden, sonst müsste ich noch eine Kleinigkeit essen. Ebenfalls habe ich darauf geachtet, dass kein zusätzliches Essensinsulin noch Wirkung hatte. Der Blutzucker fällt während der Bewegung und mehrere Stunden danach.
- Krafttraining: Beim Oberkörpertraining bleibt der BZ relativ stabil, beim Beintraining kann es den Blutzucker zum Steigen bringen, da mit den Beinen eine grosse Muskelgruppe trainiert wird. Je nach Intensität wird im Körper Stress ausgelöst und Adrenalin bzw. Zucker ausgeschüttet.
- Intensives Training mit hohem Puls: Einige Monate lang habe ich Taebo trainiert. Eigentlich müsste ich hier vor Beginn Insulin spritzen, um den rasanten Anstieg des Blutzuckers abdecken zu können. Die hohe Intensität schüttet Adrenalin aus, was den Blutzucker stark steigen lässt. Das Abschätzen im Voraus, wie intensiv das Training sein und wie sich der Blutzucker verhalten wird, empfinde ich als äusserst schwierig. Nach dem Training, sobald der Körper wieder zur Ruhe kommt, sinkt auch der Blutzucker schnell und ich müsste direkt nach dem Training wieder Zucker zu mir nehmen, worauf ich häufig nach solcher Anstrengung keine Lust hatte. Zuvor kein Insulin zu spritzen, ist wiederum auch keine Option. Die extremen Schwankungen hierbei optimal abdecken zu können, sehe ich als beinahe unmöglich.
Bei den Wettkämpfen sind die Optik und das Aussehen bestimmt auch sehr wichtig. Da würde sicherlich jedes Gerät auf dem Körper stören. Welche Diabeteshilfsmittel benötigst Du?
Beim Wettkampf an sich habe ich den Sensor am Arm weggelassen. Nach Bedarf habe ich manuell mit dem Pen Insulin gespritzt. Wichtig ist, dass die Geräte an keiner Stelle angebracht sind, bei welcher es die Bewertung stören würde, bzw. wichtige Muskelbereiche verdecken. Am Wettkampftag wird die Haut mit brauner Farbe angemalt, daher wäre es wohl eher unpraktisch, wenn der Sensor dann voller Farbe wäre.
Am Oberschenkel waren nach der Diät noch ein paar Verhärtungen zu sehen, welche auf die Einstiche der Nadeln zurückzuführen waren. Diese sahen optisch aus wie Cellulite, das hatte mich schon etwas gestört.
Gibt es ein Ereignis, welches Dich stark geprägt hat?
Eines der prägendsten Ereignisse in meinem Leben war die Diät und Vorbereitung auf meinen ersten Wettkampf. Es hat mich gelehrt, wozu Körper und Geist fähig sind, die kleinen Dinge des Lebens noch mehr zu schätzen und dankbar zu sein, für das, was man hat.
Was hat Dein Leben mehr geprägt, der Leistungssport oder der Diabetes?
Prägend ist/war für mich bestimmt beides. Der Diabetes ist eine chronische Krankheit, die mein Leben herausfordernd gemacht hat und eine Tatsache, die gegeben ist. Obwohl ich die Krankheit von Beginn an gut akzeptieren konnte, wünschte ich mir hin und wieder eine Pause davon zu haben. Der Leistungssport ist ebenfalls eine grosse Herausforderung, die ich jedoch aus eigenem Willen gewählt habe und mir offen bleibt, dies jederzeit wieder zu beenden oder aufzunehmen.
Das Fitnesstraining und die ausgewogene Ernährung geben mir eine alltägliche Balance für Psyche, Körper und Geist, kommen aber auch einem stabilen Blutzucker entgegen. Beide Herausforderungen haben mir zu einem grossen Mehrwert verholfen. Durch den Diabetes sowie das Bodybuilding musste und durfte ich mich mit mir und meinem Körper auseinandersetzen. Dadurch konnte ich mich umso besser kennen lernen. Ich bin dankbar für das, was ist und was ich bisher ich erfahren durfte.